Die folgende Fallvignette schildert eine Situation in einem Lehr-Lern-Kontext, der forschendes Lernen zum Ziel hat. Die beschriebene Situation stammt aus Interviewdaten mit Koordinator_innen von Projekten zum forschenden Lernen und wurde sowohl für Lehrende als auch für Tutor_innen aufbereitet. Die Fallvignette thematisiert eine typische Herausforderung, die in Lehrangeboten zur Förderung des forschenden Lernens auftritt. Mithilfe der Fallvignette können Sie als Tutor_in die beschriebene Herausforderung reflektieren und überlegen, was Sie in einer solchen Situation tun würden bzw. wie Sie diese vermeiden können. Dazu werden in den einzelnen Fallvignetten Reflexionsfragen aufgeworfen und verschiedene Haltungen und Umgangsweisen vorgestellt.
Anleitung für Tutor_innen
Tutor_innen werden im Kontext des forschenden Lernens für sehr verschiedene Tätigkeiten eingesetzt, auch sind die Erwartungen von den Lehrenden an ihre Tutor_innen sehr heterogen. Entsprechend ist es für Sie wichtig, vorab zu klären, was von Ihnen erwartet wird. Welche Entscheidungen dürfen Sie treffen? Dürfen Sie Studierendengruppen beraten? Welche Befugnisse haben Sie und wo sind Grenzen?
Gleichzeitig ist auch wichtig, dass Sie Ihre eigenen Grenzen wahrnehmen. Wofür möchten Sie die Verantwortung übernehmen – und wofür nicht? Welche Kompetenzen bringen Sie mit – und welche nicht?
Je nachdem, welche Rolle Sie als Tutor_in im forschenden Lernen einnehmen, können die in den Fallvignetten präsentierten Haltungen und Handlungsvorschläge sehr gut passen oder auch Ihre Kompetenzen und Befugnisse übersteigen. Daher ist es wichtig, dass Sie die Fallvignetten als Anregungen verstehen. Wenn Sie unsicher sind, welche Haltung Sie im Tutorium einnehmen sollen oder ob eine der vorgeschlagenen Handlungsempfehlungen von Ihnen umgesetzt werden kann, fragen Sie auf jeden Fall bei der verantwortlichen Lehrperson nach.
Als weitere Einschätzungshilfe finden Sie hinter den einzelnen Handlungsempfehlungen der jeweiligen Fallvignette ein Symbol, das Ihnen eine Tendenz anzeigt, ob Sie diese Handlung eher selbstständig und ohne Absprache durchführen können oder ob Sie diese Handlung besser noch einmal mit der hauptverantwortlichen Lehrperson besprechen sollten. Die vorgeschlagenen Bewertungen sind nur als erste Einschätzung zu verstehen und müssen immer in ihrem konkreten Kontext betrachtet und kritisch hinterfragt werden.
Symbol | Bedeutung |
Sie befinden sich auf sichern Land und haben festen Grund unter den Füßen… In der Fallvignette bedeutet dieses Symbol, dass die damit gekennzeichneten Handlungen einfach und ohne großen Aufwand umzusetzen sind. Sie können diese wahrscheinlich selbständig ohne Absprache mit der begleitenden Lehrperson in ihr Tutorium einführen. | |
Sie liegen vor Anker und haben die Insel verlassen, sind aber immer noch in der Nähe des Ufers… Handlungsempfehlungen, die mit den Anker-Symbol ausgezeichnet sind, können schon etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen und eine größere Wirkung auf das Tutorium oder die anderen Veranstaltungen zum forschenden Lernen haben. Überlegen Sie ob Ihre Kompetenzen und Befugnisse ausreichen, um hier eigenverantwortlich zu handeln. Im Zweifel besprechen Sie sich mit der verantwortlichen Lehrperson. | |
Sie sind auf hoher See und befinden sich in einer unsicheren Situation, in der Unwägbarkeiten auftreten können… Dieses Symbol wird verwendet, wenn Handlungsempfehlungen einen hohen organisatorischen Aufwand für Sie oder die Studierenden bedeuten und einen starken Einfluss auf das forschende Lernen haben. Es empfiehlt sich, diese Handlungsempfehlungen mit der verantwortlichen Lehrperson zu besprechen. |
Sie befinden sich in einer Projektbesprechung. Je länger Sie mit den Studierenden reden, umso deutlicher wird: Die Studierenden haben zwar schon sehr viel Energie in ihr Konzept hineingesteckt, aber als Gruppe haben sie sich verrannt: das Konzept kann und wird so nicht funktionieren. Außerdem wird die Zeit langsam zu knapp, um nochmal anzufangen und ein neues Projekt zu konzipieren, welches noch zu Ergebnissen kommt. Sie überlegen, wie Sie nun am besten mit den Studierenden weiterverfahren.
Reflexionsfragen
Die oben beschriebene Situation ist eine typische Herausforderung, mit der Tutor_innen oder Lehrende konfrontiert werden können, wenn sie Studierende beim forschenden Lernen unterstützen. Die folgenden Reflexionsfragen dienen als Impulse, aus verschiedene Perspektiven auf eine solche oder ähnliche Situation zu schauen und dann auch zu unterschiedlichen Entscheidungen zu kommen:
- Wie können Sie mit den Studierenden über ihr Scheitern sprechen, ohne sie zu entmutigen? („Scheitern als Abbruch“)
- Wie könnte ein Kompromiss aussehen (z.B. Realisierung von Teilzielen und -komponenten, die machbar wären („Scheitern als Erfahrungswidrigkeit“))?
- Sehen Sie sich in der Verantwortung, die Studierenden bei der Bewältigung der Folgen des Scheiterns zu begleiten?
- Was können die Studierenden möglicherweise aus der Erfahrung des Scheiterns lernen?
Haltungen und Umgangsweisen
Im Folgenden werden einerseits Haltungen, andererseits präventives und intervenierendes Handeln und in der geschilderten Situation präsentiert. Zunächst werden Haltungen geschildert. Diese haben Auswirkungen darauf, ob und wie reagiert wird. Anschließend werden Handlungen präsentiert. Sie sind Beispiele aus der Praxis, wie Lehrende an Hochschulen mit der Situation umgehen: präventiv oder intervenierend.
Haltungen
Haltungen umfassen keine konkreten Maßnahmen, sondern beschreiben die innere Einstellung von Lehrenden und Tutor_innen zu unterschiedlichen Situationen. In Abhängigkeit von der Haltung können Situationen als „problematisch“ und „herausfordernd“, aber auch als „erwünscht“ und „normal“ interpretiert werden. Für Sie als Tutor_in ist es wichtig, sowohl Ihre eigene Haltung als auch die Haltung der Lehrperson zu kennen, um die Studierenden beim forschenden Lernen bestmöglich unterstützen zu können. Die Haltung der Lehrperson kann Ihnen auch als Orientierung dienen und Ihnen helfen, die Erwartungen der Lehrperson an die Studierenden zu vermitteln und Ihre Tätigkeit entsprechend auszurichten.
Scheitern als normal betrachten
Sie und die verantwortliche Lehrperson sind der Ansicht, dass Scheitern zum Forschen dazugehört. Das passiert allen Forschenden und selbstverständlich auch den Studierenden – es ist ein normaler Teil der Wissenschaft.
In dieser Fallvignettensituation könnte dies auf der Handlungsebene bedeuten:
Sie reden offen mit den Studierenden, am besten auf Augenhöhe: Das bedeutet, auch zu eigenen Misserfolgen zu stehen, und zu vermitteln, dass dies in der Wissenschaft zum Alltag gehört. Die Studierenden erkennen, dass man daraus lernen kann und fühlen sich ermutigt, sich neue Ziele zu setzen.
Scheitern als Lerngelegenheit betrachten und zulassen
Scheitern kann aus Ihrer und der Sicht der Lehrperson dazu beitragen, dass die Studierenden wertvolle Erfahrungen sammeln und die Forschungsrealität kennenlernen. Daher intervenieren Sie nicht, um Hürden oder ungeplante Schwierigkeiten, die die Studierenden (und auch Sie) oft nicht voraussehen können, zu vermeiden. Sie sorgen aber dafür, dass Studierende – trotz aller Frustration – am Ende des Prozesses ein Lernergebnis sehen.
In dieser Fallvignettensituation könnte dies auf der Handlungsebene bedeuten:
Sie und/oder die verantwortliche Lehrperson vermitteln den Studierenden auf der einen Seite ehrlich, dass ihr Projekt nicht zielführend ist. Auf der anderen Seite thematisieren Sie, dass auch Irrwege zur Forschung dazugehören und sie das Scheitern nicht persönlich nehmen müssen. Gemeinsam mit den Studierenden und auf Augenhöhe überlegen Sie, wie es jetzt weitergehen soll.
Präventives Handeln
Präventives Handeln verhindert die beschriebene Situation bzw. macht sie weniger wahrscheinlich, denn eine Garantie für die Vermeidung solcher Konflikte gibt es nicht.
Rücksprache mit Expert_innen ermöglichen
Sie organisieren, dass die Studierenden regelmäßig mit kompetenten Ansprechpartner_innen über ihren Forschungsstand sprechen. Dies kann dazu beitragen, dass Risiken des Scheiterns frühzeitig erkannt und bearbeitet werden.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Durch Kommunikation können das Risikofaktoren für einen Misserfolg identifiziert werden. So können durch bestimmte Tipps einige Fehler entweder vermieden oder korrigiert werden. Der Austausch mit jemand anderem als der gewohnten Lehrperson wirkt motivierend und eröffnet den Studierenden neue Perspektiven.
Indirekt vorher auf Probleme aufmerksam machen
Auch wenn Sie bereits potenzielle Probleme wahrnehmen, weisen Sie in Beratungsgesprächen die Studierenden nicht direktiv darauf hin. Stattdessen stellen Sie Fragen so, dass die Studierenden diese Herausforderungen selbst erkennen.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Ein so großes Scheitern, wie in dieser Situation beschrieben, könnte durch rechtzeitiges indirektes Intervenieren vermieden werden. Allerdings setzt das eine ausreichend enge Zusammenarbeit mit den Studierenden voraus, sodass Sie als Tutor_in die „Irrläufe“ rechtzeitig bemerken. Zudem benötigt eine solche „sokratische Gesprächsführung“ Zeit und Übung.
Intervenierendes Handeln
Intervenierend handelt man in der Regel, „wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“. Es handelt sich also um akute reaktive Maßnahmen.
Studierenden kommunizieren, dass etwas schief gegangen ist
In einem Gespräch teilen Sie den Studierenden mit, dass der Prozess nicht zielführend ist.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Es ist sehr wichtig, dass das Scheitern offen angesprochen wird. Auch ein schlechtes, ungeplantes oder unerwartetes Ergebnis ist ein Ergebnis. Die Studierenden werden damit konfrontiert, dass Forschung erwartungswidrig verlaufen kann. Dabei soll den Studierenden in erster Linie bewusst werden, dass Fehler zu machen nichts Ungewöhnliches, sondern eine Lerngelegenheit ist. Die Studierenden können in einem Gespräch gemeinsam darüber nachdenken, was schiefgegangen ist und was sie in Zukunft besser machen können.
- Projekt FideS-Transfer & Insel der Forschung
- 2024
-
Sie befinden sich in einer Projektbesprechung. Je länger Sie mit den Studierenden reden, umso deutlicher wird Die Studierenden haben zwar schon sehr viel Energie in ihr Konzept hineingesteckt, aber als Gruppe haben sie sich verrannt: das Konzept kann und wird so nicht funktionieren. Außerdem wird die Zeit langsam zu knapp, um nochmal anzufangen und ein neues Projekt zu konzipieren, welches noch zu Ergebnissen kommt. Sie überlegen, wie Sie nun am besten mit den Studierenden weiterverfahren.
- Deutsch
- CC BY NC (Namensnennung - Nicht kommerziell )
- Preiß, J., Bartels, M., Herrmann, A.-C., Krein, U., Lübcke, E., Watanabe, A. & Reinmann, G. (2024). Dead end - Fallvignette für Tutor_innen. Hamburg; Kaiserslautern; Potsdam: Projekt FideS-Transfer & Insel der Forschung 2.0.
- übergreifend