Die folgende Textsequenz bzw. Fallvignette schildert eine Situation im Kontext einer Lehre, die forschendes Lernen zum Ziel hat. Die beschriebene Situation fordert Sie als Lehrende heraus und verlangt möglicherweise von Ihnen, dass Sie unmittelbar handeln. Ziel der Bearbeitung der Fallvignette ist es, dass Sie sich Gedanken darüber machen können, was Sie in einer solchen Situation tun oder wie Sie eine solche verhindern könnten. Vielleicht aber schätzen Sie die Situation auch als problemlos und eher lernförderlich ein. So oder so können sich auf diese Weise sozusagen präventiv mit möglichen Herausforderungen vertraut machen und Ihre eigenen Bewertungen und Handlungsimpulse reflektieren.
Die beschriebenen Situationen stammen aus Interviewdaten mit Koordinator_innen von Projekten zum forschenden Lernen und wurden für den genannten Zweck zugespitzt. Es wurden die geläufigsten Herausforderungen, die in Lehrangeboten zur Förderung forschenden Lernens vorkommen, ausgewählt und in Fallvignetten umgewandelt.
In der Sitzung am Donnerstag: Eine Projektgruppe von zehn Personen streitet sich. Sie haben sich seit dem ersten Tag nicht einigen können, ob sie ein Wasserentsalzungsprojekt für ein Dorf in Namibia oder für ein spanisches Hotel planen wollen. Bis dato hat die Gruppe beschlossen, dieses „Detail“ zu ignorieren und die Konstruktionsplanung unabhängig davon zu beginnen. Im Verlauf der Diskussion hören Sie allerdings heraus, dass die Teilgruppen mit unterschiedlichen Voraussetzungen planen, die fachlich nicht vereinbar sind. Es gelingt den Studierenden nicht, sich zu einigen, da ein Nachgeben den Verlust von eigenen Forschungsfortschritten bedeuten würde.
Reflexionsfragen
- Trauen Sie den Studierenden zu, den Konflikt
selbständig zu lösen? - Gibt es Teammitglieder, die bestimmte Rollen im
Konflikt einnehmen und was folgt daraus? - Was könnten die Studierenden an dem Konflikt
lernen? - Wie können Sie (ein mögliches) Scheitern
produktiv für die Lernprozesse der Studierenden / aller Studierenden im Kurs
nutzen? - Wie können (und wollen) Sie intervenieren?
Haltungen und Umgangsweisen
Im Folgenden werden einerseits Haltungen, andererseits präventives und intervenierendes Handeln in der geschilderten Situation präsentiert. Zunächst werden Haltungen geschildert. Diese haben Auswirkungen darauf, ob und wie reagiert wird. Anschließend werden Handlungen präsentiert. Sie sind Beispiele aus der Praxis, wie Lehrende an Hochschulen mit der Situation umgehen: präventiv oder intervenierend. Zudem werden indirekte Maßnahmen aufgeführt, die sozusagen „über Bande“ Wirkung entfalten können.
Haltungen
Haltungen umfassen keine konkreten Maßnahmen, sondern beschreiben die innere Einstellung von Lehrenden (oder Koordinierenden) zu unterschiedlichen Situationen. In Abhängigkeit von der Haltung können Situationen als „problematisch“ und „herausfordernd“, aber auch als „erwünscht“ und „normal“ interpretiert werden.
In die Kompetenz der Studierenden vertrauen
Sie sind der Ansicht, dass Studierenden nicht alles abgenommen werden muss. Stattdessen nehmen Sie an, dass sie weitgehend selbstverantwortlich handeln können und nur in Ausnahmen Unterstützung brauchen.
In dieser Fallvignettensituation könnte das auf der Handlungsebene bedeuten:
Sie kommunizieren den Studierenden Ihre Haltung. Sie weisen sie auf ihre Eigenverantwortung hin und bitten sie, im Team eine Lösung zu finden. Erst, wenn das nicht klappt, intervenieren Sie mit weiteren Maßnahmen. In dieser Fallvignettensituation kann der Konflikt bereits so weit eskaliert sein, dass die Studierenden tatsächlich Unterstützung benötigen; der Hinweis auf die Eigenverantwortung kann allerdings dazu führen, dass die Studierenden doch noch Verantwortung übernehmen und selbst eine Lösung finden.
Sich am Prinzip der minimalen Hilfe orientieren
Sie sind überzeugt, dass Hilfe nur sinnvoll ist, wenn sie eingefordert wird; und auch dann halten Sie nur so viel Hilfe für angebracht, wie die Studierenden brauchen; das bedeutet auch, dass Studierende selbst verantwortlich für ihre Organisation sind. Sie gehen davon aus: Nur in Fällen, in denen die Gruppenarbeit erkennbar aus dem Ruder läuft, sollten Lehrende eingreifen.
In dieser Fallvignettensituation könnte das auf der Handlungsebene bedeuten:
Um einzuschätzen, ob es tatsächlich nötig ist zu intervenieren, müssen Sie Gespräche mit den Studierenden führen. Machen Sie die Studierenden auf Ihre Eigenverantwortung aufmerksam. Sollte dieser Hinweis nichts bewirken, können Sie als Lehrende intervenieren – und zwar nur in dem Ausmaß, wie es erforderlich ist.
Die Heterogenität der Gruppe als Lerngelegenheit einschätzen
Sie betrachten Konflikte infolge von Heterogenität grundsätzlich als konstruktive Impulsgeber, welche den Beteiligten neue Perspektiven schenken und blinde Flecken aufdecken.
In dieser Fallvignettensituation könnte das auf der Handlungsebene bedeuten:
In einem Gespräch mit den Studierenden stellen Sie die Vorteile dieser Auseinandersetzung heraus. Dabei betonen Sie, dass alle Positionen berechtigt sind (insbesondere bei Interdisziplinarität). Sie können auch die Lerneffekte infolge des Konflikts nutzen: Was lernen die Studierenden in dieser Auseinandersetzung? Gegebenenfalls können Sie den Studierenden einen neuen Arbeitsauftrag geben und die sie auffordern, die unterschiedlichen Voraussetzungen und Grundannahmen fachlich aufzubereiten und zu zeigen, warum die beiden Konzepte unvereinbar sind
Herausforderungen als zumutbar betrachten
Sie wollen, dass die Studierenden herausfordernde Situationen „durchstehen“, lassen die Studierenden dabei aber nicht alleine. Stattdessen bieten Sie den Studierenden Beratung an und fördern deren Reflexion.
In dieser Fallvignettensituation könnte das auf der Handlungsebene bedeuten:
Sie nehmen den Konflikt zwischen den Studierenden bewusst in Kauf, auch ein mögliches Scheitern des Projektes. Jedoch reflektieren Sie hinterher gemeinsam darüber, welchen Nutzen der Konflikt hatte, beispielsweise was dadurch gelernt wurde.
Überforderung als Grundprinzip von Universität akzeptieren
Sie betrachten Überforderung von Studierenden als normal und wünschenswert und vermitteln es ihnen auch in Gesprächen. Sie betonen, dass Überforderung zu Wachstum führt.
In dieser Fallvignettensituation könnte das auf der Handlungsebene bedeuten:
Sie initiieren ein Reflexionsgespräch mit den Studierenden. Dort greifen Sie das Thema der Überforderung auf. Gemeinsam denken Sie darüber nach, welchen Nutzen die Überforderung in dieser Situation mit sich gebracht hat.
Präventives Handeln
Präventives Handeln verhindert die beschriebene Situation bzw. macht sie weniger wahrscheinlich, denn eine Garantie für die Vermeidung solcher Konflikte gibt es nicht.
In einer Teamentwicklung initiale Rollenverteilung fördern
Bevor mit der eigentlichen Forschung begonnen wird, initiieren Sie eine Phase zur Teamentwicklung. In dieser Phase erleben Studierende unter anderem den Nutzen von Rollenverteilungen im Team – ohne dass sie ihnen explizit vorgegeben wird. In der Regel entscheiden die Studierenden sich anschließend, dieses Prinzip für ihre Projektarbeit zu übernehmen und weisen einander unterschiedliche Rollen zu.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Wenn Aufgaben und Rollen klar verteilt sind, kann verhindert werden, dass Studierende inhaltlich parallel oder in verschiedene, nicht zusammenpassende Richtungen arbeiten.
Ansprechpartner_innen anbieten
Sie signalisieren den Studierenden von Anfang an regelmäßig, dass sie bei Schwierigkeiten Ansprechpartner_innen haben – und zwar auch für kleinere Fragen oder Anliegen.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Werden Studierende explizit auf die vorhandene Unterstützung mehrfach hingewiesen, sinkt die Hemmschwelle eher, diese zu nutzen; das kann dazu führen, dass Auseinandersetzungen frühzeitig professionell moderiert werden und nicht eskalieren.
Mehrere Gruppensprecher_innen ernennen
Sie fordern ein, dass die Projektgruppen zwei Sprecher_innen ernennen, die mit Ihnen oder Tutor_innen in Kontakt stehen.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Die Rollen- und damit Aufgabenzuteilung von mehreren Sprecher_innen kann verhindern, dass nur eine Perspektive über den Forschungsprozess kommuniziert wird und mögliche Missverständnisse oder Unklarheiten verdeckt bleiben. Konflikte können so eher sichtbar werden, insbesondere dann, wenn die Ansprechpartner_innen aus den jeweiligen in Konflikt stehenden „Binnenteams“ kommen.
Informell begleiten
Sie fragen die Projektgruppen zwischendurch immer wieder informell (mündlich), wie es im Projekt und in der Gruppe läuft.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Durch häufige informelle Kommunikation können Konflikte frühzeitiger identifiziert und bearbeitet werden.
Tutorien einsetzen
Sie regen an, dass es regelmäßige Tutorien gibt, die durch Studierende betreut werden. Dort wird der Aspekt der Teamarbeit reflektiert, Rollenverständnisse in den Gruppen werden geklärt und Konflikte thematisiert.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Mit Tutorien gibt es einen festgesetzten Rahmen, in dem Konflikte bearbeitet werden können – bestenfalls, bevor sie eskalieren.
Kleingruppen individuell beraten
Sie bieten den einzelnen Projektgruppen fixe Beratungstermine an.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Es gibt feste Termine, an denen Konflikte bearbeitet werden können – bestenfalls, bevor sie eskalieren.
Online-Forum zur Verfügung stellen
Sie organisieren ein Online-Forum. Darin können Studierende einander Fragen stellen und beantworten. Erst dann, wenn Fragen nicht von Peers aufgegriffen oder beantwortet werden können, unterstützen Sie oder andere Betreuende.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
In einem Forum können die Studierenden mit anderen Gruppen kommunizieren, die denselben oder einen ähnlichen Arbeitsauftrag haben. Dadurch werden sie möglicherweise früher auf Widersprüche und potenzielle Probleme aufmerksam. Es können auch Argumente von Gruppenexternen in die Diskussion einfließen. Zudem können Betreuende den aufkeimenden Konflikt früher wahrnehmen und dessen Schlichtung unterstützen
Intervenierendes Handeln
Intervenierend handelt man in der Regel, „wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“. Es handelt sich also um akute reaktive Maßnahmen.
„Externe Player“ nutzen, um die Aufgabenstellung nachzuregeln
Sie formulieren Aufgabenstellungen von Beginn an als „Arbeitsaufträge“ von fiktiven Auftraggebern (Firmen, sozialen Einrichtungen, …). Ist ein solcher Auftraggeber etabliert, bietet er eine gute Möglichkeit, die Aufgabenstellung zu regulieren und in Konflikte einzugreifen.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Wenn die Studierenden keine Einigung finden oder es nicht alleine schaffen, Pläne einzuhalten, kann der fiktive externe Auftraggeber im Nachhinein die Aufgabenstellung nachregulieren – nach dem Motto: „Die Firma hat den Auftrag geändert, weil der Deal mit Spanien geplatzt ist“. Damit wird der Gruppe die Entscheidung „gesichtswahrend“ abgenommen: Keine der konkurrierenden Ideen wird aufgrund von fachlichen Aspekten abgelehnt.
Impulse zum Weitermachen geben, ohne eine Lösung vorzugeben
Wenn Studierende grobe Fehler machen, wie im vorliegenden Beispiel ohne interne Abstimmung zu arbeiten, können Sie ihnen fachlich versierte Ansprechpartner_innen zur Verfügung stellen, die mithilfe von gezielten Fragen (statt direkter Anweisungen oder fertigen Lösungen) verdeutlichen, dass es so nicht funktioniert und beim Weiterplanen unterstützen. Sie können diese Rolle auch selbst übernehmen.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Wenn ein grundsätzliches Problem frühzeitig thematisiert und gelöst wird, lässt sich zumindest das Ausmaß des Konflikts reduzieren. Bestenfalls begreifen die Studierenden selbst rasch, warum die parallele Bearbeitung nicht zielführend ist und finden in Eigenorganisation einen anderen Weg.
Indirekte (begleitende) Maßnahmen
Die begleitenden Maßnahmen wirken nicht direkt auf die Studierenden ein, sondern eher „über Bande“, in diesem Fall Dritte Akteur_innen.
Tutor_innen coachen
Wenn Sie mit Tutor_innen arbeiten, welche die studentischen Gruppen betreuen, können regelmäßige Coaching-Sitzungen sinnvoll sein, bei denen die Tutor_innen in Kleingruppen und in Einzelsettings noch einmal gezielt darin unterstützt werden, Gruppenkonflikte wahrzunehmen und zu bearbeiten.
Einen Jour-Fix für Betreuende einrichten
Wenn Sie mit Tutor_innen arbeiten, können Sie einen regelmäßigen Termin etablieren, an dem sich Lehrende und Tutor_innen gegenseitig zu schwierigen Situationen beraten.
- Projekt FideS-Transfer
- 2020
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In der Sitzung am Donnerstag: Eine Projektgruppe von zehn Personen streitet sich. Sie haben sich seit dem ersten Tag nicht einigen können, ob sie ein Wasserentsalzungsprojekt für ein Dorf in Namibia oder für ein spanisches Hotel planen wollen. Bis dato hat die Gruppe beschlossen, dieses „Detail“ zu ignorieren und die Konstruktionsplanung unabhängig davon zu beginnen. Im Verlauf der Diskussion hören Sie allerdings heraus, dass die Teilgruppen mit unterschiedlichen Voraussetzungen planen, die fachlich nicht vereinbar sind. Es gelingt den Studierenden nicht, sich zu einigen, da ein Nachgeben den Verlust von eigenen Forschungsfortschritten bedeuten würde.
- Fallvignette
- Deutsch
- CC BY SA (unsere Empfehlung: Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen)
- Preiß, J., Bartels, M., Herrmann, A.-C., Krein, U., Lübcke, E. & Reinmann, G. (2020). Fallvignette: Einigung? Unmöglich! Hamburg; Kaiserslautern; Potsdam: Projekt FideS-Transfer.
- übergreifend