Die folgende Textsequenz bzw. Fallvignette schildert eine Situation im Kontext einer Lehre, die forschendes Lernen zum Ziel hat. Die beschriebene Situation fordert Sie als Lehrende heraus und möglicherweise verlangt sie von Ihnen, dass Sie unmittelbar handeln. Ziel der Bearbeitung der Fallvignette ist es, dass Sie sich Gedanken darüber machen können, was Sie in einer solchen Situation tun würden oder wie Sie eine solche verhindern könnten. Vielleicht aber schätzen Sie die Situation auch als problemlos und eher lernförderlich ein. So oder so können Sie sich auf diese Weise präventiv mit möglichen Herausforderungen vertraut machen und Ihre eigenen Bewertungen und Handlungsimpulse reflektieren.

Die beschriebenen Situationen stammen aus Interviewdaten mit Koordinator_innen von Projekten zum forschenden Lernen und wurden für den genannten Zweck zugespitzt. Auf diese Weise wurden die geläufigsten Herausforderungen, die in Lehrangeboten zur Förderung forschenden Lernens vorkommen, ausgewählt und in Fallvignetten umgewandelt.

Semesterende. Sie müssen sich eingestehen, dass Sie das Projekt nicht nochmal so durchführen können. Es raubt Ihnen zu viel Zeit und zu viele Ressourcen. Sie haben letztlich beinahe drei Mal so viele SWS in die eine Veranstaltung investiert, wie vorgesehen. Hauptsächlicher Auslöser dafür waren die vielen Fragen, welche die Studierenden Ihnen zu ihren Forschungsprozessen gestellt haben – keine anspruchsvollen und oft eher rückversichernde Fragen, aber es waren letztlich über 500 zu beantwortende Mails (auch wenn manche nur sehr kurz waren) und keine einzige Sprechstunde, die in der geplanten Zeit eingehalten wurde. Sie wissen, dass die Fachbereichsleitung Ihr Projekt sehr begrüßt und möglicherweise Gelder für ein bis zwei studentische Hilfskräfte zur Verfügung stellen würde. Dafür bräuchten Sie aber ein gutes Konzept für eine tutorielle Betreuung der Studierenden in der Veranstaltung.

Reflexionsfragen

Die oben beschriebene Situation ist eine typische Herausforderung, der Sie begegnen könnten, wenn Sie forschendes Lernen in Ihrer Lehre umsetzen. Die folgenden Reflexionsfragen dienen als Impulse, aus verschiedenen Perspektiven auf eine solche oder ähnliche Situation zu schauen und dann auch zu unterschiedlichen Entscheidungen zu kommen:

  • Können Sie Ihre eigenen (analogen und digitalen) Arbeitsweisen und Kommunikationswege optimieren?
  • Welche Aufgaben könnten Sie auslagern/outsourcen?
  • Welche Fähigkeiten müssten Tutor_innen haben, um diese Aufgaben zu übernehmen?
  • Wie können Sie Peer-Feedback-Verfahren etablieren, so dass die Studierenden sich gegenseitig beraten?
  • Könnten Sie initiieren, dass erfahrene Studierende aus den Vorsemestern ihr Wissen an jüngere Kohorten weitergeben?

Haltungen und Umgangsweisen

Im Folgenden werden einerseits Haltungen, andererseits präventives und intervenierendes Handeln in der geschilderten Situation präsentiert. Zunächst werden Haltungen geschildert, welche Auswirkungen darauf haben könnten, ob und wie reagiert wird. Anschließend werden Handlungen präsentiert. Sie sind Beispiele aus der Praxis, wie Lehrende an Hochschulen mit der Situation umgehen: präventiv oder intervenierend. Zudem werden indirekte Maßnahmen aufgeführt, die sozusagen „über Bande“ ihre Wirkung entfalten können.

Rahmenbedingungen

Aus- und Weiterbildung von Tutor_innen

Bevor die Tutor_innen eingesetzt werden, müssen sie zunächst ausgebildet werden. Als mögliche Themen bieten sich hierfür unter anderem eine Einführung in das forschende Lernen, Moderation, Umgang mit schwierigen Lernsituationen sowie Forschungsdatenmanagement an.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Tutor_innen erhalten eine theoretische Grundlage für ihr Arbeiten und sind für unterschiedlichste Situationen vorbereitet, sodass Sie im Prozess weniger Anfragen oder Unterstützungsbedarfe von den Tutor_innen erhalten.

Hospitationen ermöglichen

Die zukünftigen Tutor_innen sollten die Gelegenheit erhalten, in laufenden Tutorien zu hospitieren, um sich bereits mit der Situation vertraut zu machen, aber auch um Ansprechpartner_innen zu haben und niedrigschwellig Fragen stellen zu können.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Tutor_innen können sich mit der Situation in Tutorien vertraut zu machen und eine Vorstellung von möglichen Abläufen und Herausforderungen erhalten. Außerdem haben Sie so Ansprechpartner_innen, um niedrigschwellig Fragen zu stellen.

Regelmäßige Treffen mit Tutor_innen organisieren

Es empfiehlt sich, den Tutor_innen regelmäßige Austauschmöglichkeiten zu schaffen: So können sie sich einerseits untereinander beraten, andererseits sind auch Sie als Ansprechpartner_innen bei Herausforderungen greifbar und können absichernd wirken.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Einerseits können sich die Tutor_innen untereinander beraten, andererseits sind auch Sie als Ansprechpartner_innen bei Herausforderungen greifbar und können absichernd wirken.

Motivationsschreiben einfordern

Sie fordern von den Bewerber_innen ein Motivationsschreiben, in dem sie sowohl ihre Fähig- und Fertigkeiten als auch ihre Erwartungen an den Job explizieren sollen.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Ein Einblick in die Vorstellungen der Tutor_innen verdeutlicht Vorbereitungsbedarfe oder sortiert ggf. gleich aus.

Formen der Einbindung von Tutor_innen

Absicherung ermöglichen

Sie organisieren eine wöchentliche Fragestunde mit Tutor_innen. Dort können die Studierenden zunächst ihre Fragen stellen, wenn sie sich mit etwas unsicher sind.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Tutor_innen wirken als entlastende Filter, sodass nur noch große Fragen an Sie als Lehrperson weitergetragen werden. Nachteil: Die Tutor_innen müssen gut geschult sein und Verantwortung übernehmen.

Enge Betreuung durch Tutor_innen ermöglichen

Statt Sie als Lehrperson betreuen Tutor_innen die Studierenden. Denen stehen Sie zur Rückversicherung zur Verfügung.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Sie als Lehrperson werden entlastet. Für die Betreuenden ist es eine großartige Lerngelegenheit. Nachteil: Die Tutor_innen müssen gut geschult sein und Verantwortung übernehmen.

Peer-Review von Einreichungen durch Tutor_innen organisieren

Die Einreichungen von Studierenden werden in einem Review-Prozess begutachtet. Dieser wird von studentischen Tutor_innen durchgeführt und begleitet, sodass in mehreren Schleifen die Einreichungen verbessert werden. 

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Studierenden erhalten für ihre Einreichungen zusätzliches Input. Außerdem werden Sie als Lehrperson zweifach entlastet: Einerseits wird Ihnen die Review-Aufgabe abgenommen, andererseits sind die Studierenden möglicherweise auch während des Prozesses mutiger, denn sie wissen, dass ihre Abgabe noch keine finale ist.

Vertiefungsarbeit ermöglichen

In begleitenden Tutorien werden offene Fragen aufgegriffen und bearbeitet, aber auch neue aufgeworfen, um so tiefer in Themen einzusteigen.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Studierenden setzen sich tiefer mit den Inhalten auseinander. Sie als Lehrperson müssen dafür nicht mehr Zeit investieren.

Sozialen Kitt ermöglichen

Tutor_innen können auch eingestellt werden, um Uneinigkeiten und Konflikte aufzudecken und zu bearbeiten, sodass Eskalationen vermieden werden können.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Sie als Lehrperson können sich mit inhaltlichen Fragen beschäftigen. Zudem arbeiten die Studierenden produktiver, da weniger Energie in Konflikte investiert wird.

Teambegleiter_innen als Feedbackgebende einsetzen

Sie können Tutor_innen auch als Teambegleiter_innen einsetzen. Sie beobachten den Prozess und geben in regelmäßigen Abständen Feedback zum Gruppenverhalten und Forschungsprozess. Außerdem könnten sie am Ende des Semesters auch eine Zusammenfassung ihrer Beobachtungen über das Verhalten (und damit auch Stärken und Schwächen) der Studierenden im Forschungs- und Gruppenprozess verfassen, das nur den Beobachteten persönlich ausgehändigt wird.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Teambegleiter_innen übernehmen die Rolle der Feedbackgebenden, dadurch werden Unterschiede oder gar Defizite explizit und die Studierenden können sich entscheiden, was sie daraus machen.

Interdisziplinären Pool von Tutor_innen erstellen

Statt für einzelne Projekte Tutor_innen einzustellen, kann auch ein übergreifender Pool von Tutor_innen zusammengestellt werden. Die Tutor_innen sind speziell und umfassend ausgebildet und können für unterschiedliche Aufgaben angefragt werden. Dadurch entsteht einerseits interdisziplinärer Austausch, außerdem kann das Niveau der Betreuung steigen, da die Tutor_innen vielseitige Erfahrungen sammeln.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Sie können die Tutor_innen bei Bedarf projektübergreifend einsetzen. Das bedeutet auch, dass sie nicht von Beginn bis Ende des Projekts eingesetzt werden müssen. Sie sind entsprechend nicht dafür zuständig, Stunden zu füllen, wenn es keinen Bedarf für sie gibt.

  • FideS-Team
  • Projekt FideS - Forschungsorientierung in der Studieneingangsphase
  • 2020
  • Semesterende. Sie müssen sich eingestehen, dass Sie das Projekt nicht nochmal so durchführen können. Es raubt Ihnen zu viel Zeit und zu viele Ressourcen. Sie haben letztlich beinahe drei Mal so viele SWS in die eine Veranstaltung investiert, wie vorgesehen. Hauptsächlicher Auslöser dafür waren die vielen Fragen, welche die Studierenden Ihnen zu ihren Forschungsprozessen gestellt haben – keine anspruchsvollen und oft eher rückversichernde Fragen, aber es waren letztlich über 500 zu beantwortende Mails (auch wenn manche nur sehr kurz waren) und keine einzige Sprechstunde, die in der geplanten Zeit eingehalten wurde. Sie wissen, dass die Fachbereichsleitung Ihr Projekt sehr begrüßt und möglicherweise Gelder für ein bis zwei studentische Hilfskräfte zur Verfügung stellen würde. Dafür bräuchten Sie aber ein gutes Konzept für eine tutorielle Betreuung der Studierenden in der Veranstaltung.

  • Fallvignette
  • Deutsch
  • CC BY SA (unsere Empfehlung: Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen)
  • Preiß, J., Bartels, M., Herrmann, A.-C., Krein, U., Lübcke, E. & Reinmann, G. (2020). Fallvignette: Oktopus. Hamburg; Kaiserslautern; Potsdam: Projekt FideS-Transfer.
  • übergreifend