Die folgende Textsequenz bzw. Fallvignette schildert eine Situation im Kontext einer Lehre, die forschendes Lernen zum Ziel hat. Die beschriebene Situation fordert Sie als Lehrende heraus und möglicherweise verlangt sie von Ihnen, dass Sie unmittelbar handeln. Ziel der Bearbeitung der Fallvignette ist es, dass Sie sich Gedanken darüber machen können, was Sie in einer solchen Situation tun würden oder wie Sie eine solche verhindern könnten. Vielleicht aber schätzen Sie die Situation auch als problemlos und eher lernförderlich ein. So oder so können Sie sich auf diese Weise präventiv mit möglichen Herausforderungen vertraut machen und Ihre eigenen Bewertungen und Handlungsimpulse reflektieren.
Die beschriebenen Situationen stammen aus Interviewdaten mit Koordinator_innen von Projekten zum forschenden Lernen und wurden für den genannten Zweck zugespitzt. Auf diese Weise wurden die geläufigsten Herausforderungen, die in Lehrangeboten zur Förderung forschenden Lernens vorkommen, ausgewählt und in Fallvignetten umgewandelt.
Es ist mitten im Semester. Sie treffen einen befreundeten Kollegen auf dem Gang. Relativ schnell kommt er auf den Punkt: „Sag mal, was machst du denn in dem BA3-Seminar? Die Studis sind mir gestern richtig auf die Barrikaden gegangen, als ich ihnen eine „größere“ Aufgabe geben wollte. Sie hätten gar keine Ressourcen mehr übrig und ich solle mich an dich wenden, wenn mich das stört“, sagt er etwas verärgert. „Puh“, Sie sind erstmal überrumpelt und genervt – aber Sie müssen zugeben, dass das Projekt viele Ressourcen frisst, auch bei Ihnen.
Reflexionsfragen
Die oben beschriebene Situation ist eine typische Herausforderung, der Sie begegnen könnten, wenn Sie forschendes Lernen in Ihrer Lehre umsetzen. Die folgenden Reflexionsfragen dienen als Impulse, aus verschiedenen Perspektiven auf eine solche oder ähnliche Situation zu schauen und dann auch zu unterschiedlichen Entscheidungen zu kommen:
- Sind Ihre Anforderungen und damit auch die ECTS in Ihrer Veranstaltung angemessen?
- Wie ist Ihre Veranstaltung mit den anderen Veranstaltungen des Moduls / des Studienganges verzahnt?
- Wie sehen Sie die Rolle Ihres Kollegen in dieser Situation – welche Verantwortung hat er?
- Mit wie viel weniger „Stoff“ in Ihrer Veranstaltung könnten Sie leben?
- Wie verhält sich der Arbeitsaufwand in Ihrer Veranstaltung in Relation zu anderen Veranstaltungen Ihres Fachbereichs?
Haltungen und Umgangsweisen
Im Folgenden werden einerseits Haltungen, andererseits präventives und intervenierendes Handeln in der geschilderten Situation präsentiert. Zunächst werden Haltungen geschildert, welche Auswirkungen darauf haben könnten, ob und wie reagiert wird. Anschließend werden Handlungen präsentiert. Sie sind Beispiele aus der Praxis, wie Lehrende an Hochschulen mit der Situation umgehen: präventiv oder intervenierend. Zudem werden indirekte Maßnahmen aufgeführt, die sozusagen „über Bande“ ihre Wirkung entfalten können.
Haltungen
Haltungen umfassen keine konkreten Maßnahmen, sondern beschreiben die innere Einstellung von Lehrenden (oder Koordinierenden) zu unterschiedlichen Situationen. In Abhängigkeit von der Haltung können Situationen als „problematisch“ und „herausfordernd“, aber auch als „erwünscht“ und „normal“ interpretiert werden.
Verantwortungsübernahme aller anregen
Forschendes Lernen sollte nicht Sache der einzelnen Lehrperson sein, sondern alle am Institut angehen.
In dieser Fallvignettensituation könnte dies auf der Handlungsebene bedeuten: Sie können politisch arbeiten. Viele Universitäten haben das forschende Lernen als Lehrprinzip bereits in ihre Leitbilder aufgenommen – dafür, dass dies nicht nur ein symbolischer Akt bleibt, können Sie sich als Lehrperson einsetzen. Insbesondere, damit die Verantwortung dafür nicht allein auf Ihren Schultern lastet.
Positive Effekte forschenden Lernens hervorheben
Sie sind der Ansicht, dass durch den Kompetenzzuwachs der Studierenden auch Ihre Kolleg_innen von Angeboten forschenden Lernens profitieren können.
In dieser Fallvignettensituation könnte dies auf der Handlungsebene bedeuten: Sie gehen in eine Diskussion mit Ihrem Kollegen, in der Sie diese Haltung vertreten.
Kritisches Selbsthinterfragen
Als Lehrende_r nutzen Sie die Gelegenheit des Feedbacks, um nochmal zu hinterfragen, ob die Kritik der Studierenden berechtigt ist. Erhalten sie möglicherweise zu wenige Creditpunkte im Verhältnis zum Arbeitsaufwand für Ihr Seminar?
In dieser Fallvignettensituation könnte dies auf der Handlungsebene bedeuten: Wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass die ECTS-Bewertung ungerecht ist, müssten Sie Handlungsoptionen sondieren. Einerseits kann die zukünftige ECTS-Bewertung verändert werden. Andererseits müssten Sie sich ggf. auch überlegen, wie Sie im laufenden Seminar damit umgehen – eine gemeinsame Sondierung mit den Teilnehmenden könnte weiterhelfen.
Präventives Handeln
Präventives Handeln verhindert die beschriebene Situation bzw. macht sie weniger wahrscheinlich, denn eine Garantie für die Vermeidung solcher Konflikte gibt es nicht.
Breitere Verankerung schaffen
Ihr Angebot zu forschendem Lernen wird curricular verankert, beispielsweise indem es als feststehendes Modul beschlossen wird.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Es ist allgemein bekannt und eingeplant, dass dieses Modul entsprechend viele Ressourcen bei den Studierenden einnimmt. Dies wird auch in der Mustervorlage der Modulbelegung für den Studienablauf so abgebildet, sodass es nicht viele Parallelveranstaltungen gibt und Beschwerden über Überlastung nicht akzeptiert werden müssen.
Zeitplan an sonstigen Semesterplan anpassen
Bereits in der Konzeptionsphase des Angebots zu forschendem Lernen beachten Sie den sonstigen Semesterplan. Insbesondere auf Klausurphasen nehmen Sie Rücksicht, sodass dort weniger Zeitaufwand für Ihr Angebot forschenden Lernens nötig ist. Das Setzen von Meilensteinen kann in der Prozesssteuerung hilfreich sein.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Weder die Lehrenden noch die Studierenden werden davon überrascht, dass Studierende in bestimmten Semesterphasen plötzlich weniger Zeit haben forschend zu lernen. Das Wissen unterstützt ein konsequenteres Bewusstsein für den Zeitplan.
Über zwei Semester strecken
Aus Erfahrung haben Sie gelernt, dass ein Semester für ein Projekt forschenden Lernens sehr knapp ist. Daher haben Sie eingerichtet, dass sich Ihre Veranstaltung über zwei Semester streckt. Sie ist entsprechend curricular verankert und mit einer angemessenen Anzahl von Creditpunkten versehen.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Aufgrund des Zeitgewinns ist mehr Zeit für die einzelnen Forschungsschritte vorhanden.
Freiwillig und extracurricular anbieten
Sie bieten forschendes Lernen nicht in einem curricular eingebundenen Seminar an, sondern in Form eines extracurricularen Angebots.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Durch die explizit extracurriculare Ausschreibung wäre klar, dass es in der Freizeit von den Studierenden stattfindet – das bedeutet auch, dass sie keine Ausreden in Bezug auf ihre curricularen Verpflichtungen hätten. Außerdem würden nur besonders motivierte Studierende teilnehmen.
Als Wahlpflicht anbieten
In manchen Universitäten bzw. Studiengängen gibt es für Studierende die Möglichkeit, Nebenfächer oder Wahlpflichtveranstaltungen zu wählen. Den Studierenden wird eine bestimmte Anzahl an Credit-Punkten außerhalb des eigenen Faches ermöglicht, die sie im eigenen Fach anrechnen lassen können. Ein Angebot forschenden Lernens könnte in diesem Wahlpflichtbereich angesiedelt werden.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Projekte können mit angemessen vielen ECTS-Punkten belegt werden und über die Wahlpflichtanrechnung als Studienleistung mit ins Studium eingehen.
Lernraumsemester ermöglichen
Als Mittel der Profilbildung Studierender wird von manchen Universitäten ein Lernraumsemester ermöglicht. Dafür können sich die Studierenden einschreiben und müssen in der Zeit keine (zusätzlichen) Creditpunkte erbringen. Falls die Studierenden BAföG erhalten, müssen sie pro Semester 16 Creditpunkte nachweisen – das kann auch mit einem Projekt forschenden Lernens ermöglicht werden, wenn es hinreichend umfangreich ist.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Das Angebot forschenden Lernens hätte keine curricularen Konkurrenzen, die Studierenden könnten sich ganz auf das Projekt konzentrieren – müssten aber bereit sein, ein Semester Zeit dafür zu investieren.
Argumentieren, warum es solche forschende Lernangebote braucht
Sie betonen in der Auseinandersetzung die Relevanz des forschenden Lernens für den Kompetenzzuwachs und die Haltung der Studierenden zum Studium und zur Wissenschaft.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Möglicherweise ernten Sie Zustimmung Ihres Kollegiums und ebnen den Weg für strukturelle Änderungen.
Faire ECTS-Entlohnung
Die Studierenden erhalten eine angemessene Anzahl an Creditpunkten für ihren Arbeitsaufwand für das Projekt. Forschendes Lernen benötigt oft mehr Arbeitsaufwand, als man zunächst annimmt, daher sollte besser großzügig geplant werden.
Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Studierenden können nicht behaupten, dass sie zu sehr ausgelastet sind, weil die Semesterplanung anders ausgestaltet wird, sodass nicht zu viel Arbeit in einem Semester anfällt.
Hinweis: Wenn es nicht möglich ist, mehr Creditpunkte zu vergeben, thematisieren Sie zu Semesterbeginn, dass die Creditpunkte nicht den Workload decken können.
- FideS-Team
- Projekt FideS - Forschungsorientierung in der Studieneingangsphase
- 2020
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Es ist mitten im Semester. Sie treffen einen befreundeten Kollegen auf dem Gang. Relativ schnell kommt er auf den Punkt: „Sag mal, was machst du denn in dem BA3-Seminar? Die Studis sind mir gestern richtig auf die Barrikaden gegangen, als ich ihnen eine „größere“ Aufgabe geben wollte. Sie hätten gar keine Ressourcen mehr übrig und ich solle mich an dich wenden, wenn mich das stört“, sagt er etwas verärgert. „Puh“, Sie sind erstmal überrumpelt und genervt – aber Sie müssen zugeben, dass das Projekt viele Ressourcen frisst, auch bei Ihnen.
- Fallvignette
- Deutsch
- CC BY SA (unsere Empfehlung: Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen)
- Preiß, J., Bartels, M., Herrmann, A.-C., Krein, U., Lübcke, E. & Reinmann, G. (2020). Fallvignette: Der 'wahre' Sündenbock. Hamburg; Kaiserslautern; Potsdam: Projekt FideS-Transfer.
- übergreifend