Umfeld

Universität Hamburg, Rechtswissenschaften

24 Studierende im Staatsexamen, Doktorand:innen

Durchführung: 2- bis 3-mal

2/3 SWS

In welchem Umfeld habe ich mein Angebot zum forschenden Lernen umgesetzt?

Meine Veranstaltung zum forschenden Lernen findet in den Rechtswissenschaften der Universität Hamburg statt und ist den beiden juristischen Schwerpunktbereichen Sozialrecht mit arbeitsrechtlichen Bezügen (SPB IV) sowie Information und Kommunikation (SPB VII) zugeordnet. Das Hauptziel der Lehrveranstaltung ist es grundlegende Kompetenzen im Bereich Legal Tech zu fördern. Im Rahmen des Seminars sammeln die Studierenden praktische Anwendungserfahrungen. Sie lernen, juristisches Wissen in einen anderen (digitalen) Kontext zu übertragen, um eine praxistaugliche Lösung zu entwickeln. Der Fokus liegt einerseits darauf, Beschreibungs-, Analyse- und Bewertungskompetenzen bezogen auf Legal Tech-Anwendungen herauszuarbeiten. Zum anderen wird ein besonderes Augenmerk auf den Umgang mit einem sogenannten No-Code-Tool gelegt. In diesem Zusammenhang werden die Studierenden mit einem konkreten Gestaltungsproblem konfrontiert. In einem systematisch angeleiteten Forschungsprozess versuchen sie, dieses Problem zu lösen. Ziel ist es, eine funktionsfähige Legal Tech-Anwendung, auch Minimum Viable Product (MVP) genannt, zu entwerfen und das theoretische Wissen in die Praxis umzusetzen, wodurch sowohl das Prinzip des forschenden Lernens als auch der Ansatz des Design-Based Research in der Veranstaltung zum Tragen kommen. Eine Besonderheit des Seminars ist, dass es für alle Studierenden der Rechtswissenschaften offen ist und auch von Doktorand:innen besucht werden kann. Die Seminarteilnehmer:innen zeichnen sich daher durch unterschiedliche Kenntnisstände aus.  

Umfeld

Grund

Ein Defizit bzw. ein Konflikt

Ein schon lange bestehendes bzw. strukturelles Problem

Ein persönliches professionelles Anliegen

Was war der Grund dafür, dass ich mich für das forschende Lernen entschieden habe?

Die Idee, rechtswissenschaftliche Seminare mit forschendem Lernen zu koppeln, entstand im Rahmen meiner Dissertation, die sich mit der Operationalisierung rechtsdidaktischer Modelle beschäftigt. Der Hauptgrund, forschendes Lernen zum Gegenstand meiner Lehrveranstaltungen zu machen, war, dass in der Rechtsdidaktik derzeit kaum eigenständige Forschung und Wissenstransfer von der Theorie in die Praxis stattfindet. Ich wollte dies ändern und einen Gegenentwurf zu den klassischen typischen Lehr- und Lernerfahrungen schaffen, in dem die Lernenden beginnen, sich mit aktuellen Themen auseinanderzusetzen und diese zu erforschen. Ziel war es explizit, eine Differenzerfahrung für die Beteiligten zu ermöglichen und die Studierenden für forschende Tätigkeiten zu begeistern. Hinter meiner Lehrveranstaltung zum forschenden Lernen stehen also einerseits meine eigenen Forschungsinteressen innerhalb der Rechtsdidaktik und andererseits der Wunsch, den Studierenden einen Blick über den theoretischen Tellerrand zu ermöglichen und sie für die eigene Forschung und Anwendung juristischer Überlegungen zu begeistern. 

 

 

 

Umfeld

Umsetzung

1 Semester lang

In eine Veranstaltung eingebettet

Curricular verankert & optionales Angebot

Forschungsprozess: angeleitet

Feedback: Peers, Lehrende & externe Personen

Forschungsergebnisse: öffentlich

Wie ist mein Lehrangebot zum forschenden Lernen genau beschaffen?

Ich verknüpfe mein Angebot zum forschenden Lernen mit dem Design-based Research Ansatz, wodurch der Schwerpunkt des Forschungszyklus auf der forschenden Tätigkeit und der Erstellung eines rechtswissenschaftlichen Produkts im Bereich der Ergebnispräsentation liegt. Das Finden einer Forschungsfrage spielt in diesem Zusammenhang eine geringere Rolle, da diese von mir vorgegeben und von allen Teilnehmenden untersucht wird. Die zentrale Fragestellung lautet, inwiefern der Zugang zum Recht durch die Integration von Legal Tech verbessert werden kann. Alle Aufgaben werden als Gruppenaufgaben konzipiert und Teilaufgaben von Untergruppen bearbeitet, sodass die gesamte Seminargruppe zusammen an dieser übergeordneten Fragestellung arbeitet. Der Ablauf des Seminars orientiert sich am Design Thinking Double Diamond Modell des UK Design Council, welches eine weit verbreitete grafische Darstellung des Designprozesses darstellt. Die einzelnen Termine entsprechen diesem Ansatz, so finden die ersten wöchentlich statt, die zweiten werden zwischen den Präsenzterminen gestreckt, so dass beispielsweise zwischen den letzten beiden Terminen vier Wochen liegen. Im Verlauf des Seminars nimmt die Eigeninitiative der Studierenden entsprechend zu. Eine weitere Besonderheit des Seminars ist, dass ich Stakeholder:innen in die Seminarstruktur einbinde und diese den Forschungsprozess begleiten, in dem sie z. B. als Interviewpatner:innen agieren oder den Studierenden beratend zu Seite stehen.  
 
Der Seminarprozess beginnt mit der Phase des Verstehens, in der Analyse, Recherche und Visualisierung im Mittelpunkt stehen. Die Studierenden sollen das zu bearbeitende Problem differenzieren und verstehen. Dabei spielen insbesondere die betroffenen Personengruppen (Stakeholder:innen) und deren Interessen eine entscheidende Rolle. Die Studierenden führen daher Interviews (Gruppeninterviews) durch, um relevante Informationen zu sammeln, auszuwerten und ihre Designentscheidungen daran auszurichten.   
Im nächsten Schritt, der Systematisierung, werden die gesammelten Informationen geordnet und der Problemkern definiert. Die Schwächen des bestehenden Systems werden identifiziert und eine Synthese der Problemstellung vorgenommen. Die kreative Phase beinhaltet Ideenfindung und Prototyping. Die Studierenden entwerfen, testen und modifizieren Prototypen, wobei ab der ersten gemeinsamen Iteration die Studierenden fast vollständig die Kontrolle über den weiteren Designprozess übernehmen. Das Ergebnis des Seminars ist ein gemeinsamer algorithmischer Entscheidungsbaum im Backend für drei Antragsformulare aus dem Bereich des Sozialrechts.  
Die systematische Herangehensweise an das Legal Design werden durch verschiedene Phasen von der Analyse und Recherche über die Ideenentwicklung bis hin zur Prototypisierung gewährleistet. Die Studierenden werden mit dem notwendigen methodischen Handwerkszeug ausgestattet, wobei ich als Lehrperson durch die Akquise von Vertreter:innen der Stakeholder:innen und die Bereitstellung von Leitfäden für empathische Gespräche unterstütze. 

Umfeld

Spannungen

Selbst- und Fremdorganisation

Individuellem und sozialem Lernen

Veranstaltungsplanung und Anpassung infolge der Dynamik beim forschenden Lernen

Veränderten Lehrenden-Rolle und der vorhandenen Lehrtradition

Welche Spannungen ergeben sich beim forschenden Lernen?

Ein wesentliches Spannungsfeld ergibt sich daraus, dass sich das forschende Lernen stark von anderen Lehr-Lern-Settings in den Rechtswissenschaften unterscheidet und die Studierenden zuvor kaum mit eigenen rechtswissenschaftlichen Forschungsprojekten und Fragestellungen in Berührung gekommen sind. Daher gibt es wenig Vorwissen seitens der Studierenden, auf dem aufgebaut werden könnte. 
Die Herausforderungen beginnen bereits zu Beginn des Seminars, da viel atmosphärische Arbeit, auch „Vertrauensarbeit“ genannt, notwendig ist. Die Studierenden begeben sich auf eine Art Reise ins Ungewisse und in dieser Phase ist das Vertrauen der Studierenden in den Lehrenden von entscheidender Bedeutung. Eine positive Atmosphäre ist notwendig, um die Studierenden durch die anfangs undurchsichtigen Verbindungen der neuen Inhalte zu führen. Das bedeutet, dass sowohl die Studierenden als auch ich zu Beginn viel Energie in das Seminar stecken, wir uns auf Neues einlassen müssen und die Studierenden vieles zunächst nicht verstehen oder einschätzen können. Die Phase bis zur eigenständigen Entwicklung stellt sich somit als motivationale Durststrecke dar. Erst wenn die Studierenden dann in die eigenständige Forschung und Entwicklung einsteigen, fügen sich die einzelnen Puzzleteile zusammen. Dieser Prozess erfordert Geduld und muss daher von ausreichenden Erfolgserlebnissen begleitet werden. Außerdem ist zu betonen, dass es in diesem Prozess keine Eindeutigkeit gibt, sondern dass „informierte Entscheidungen“ getroffen werden müssen. Diese Entscheidungen werden von den Studierenden auf der Grundlage ihrer eigenen Recherchen und Erhebungen getroffen, was eine besondere Herausforderung darstellt, da viele Teilnehmer:innen keine Vorerfahrung in solchen (Entscheidungs-)Prozessen haben. Diese Herausforderungen stehen in einem Spannungsverhältnis zu den späteren Erfolgen der Studierenden, die sich durch dieses Lehr-Lern-Setting viel konkreter mit rechtswissenschaftlichen Themen auseinandersetzen und lernen, ihre Komfortzone zu verlassen. Gerade gegen Ende des Seminars steigt die Begeisterung und die Studierenden sind stolz auf ihre Forschungsergebnisse und können nun nachvollziehen, wie die einzelnen Forschungsschritte ineinandergreifen. 
Eine damit zusammenhängende Herausforderung für die Studierenden besteht darin, dass die Aufgaben und die damit verbundene forschende Tätigkeit als Gruppenaufgaben und nicht als Einzelaufgaben konzipiert sind. Dies ist eine ungewohnte Situation für Jurastudierende, die in ihrem Studium eher Einzelaufgaben bearbeiten. Diese Umstellung erfordert Anpassung und Teamarbeit, was die Studierenden teilweise zunächst als irritierend oder störend empfinden, im Laufe des Seminars aber auch die Vorteile des gemeinsamen Arbeitens erkennen. 
Ein weiteres Spannungsfeld besteht in diesem Zusammenhang darin, dass ich in meiner Lehre forschendes Lernen und Design-Based Research einsetze und miteinander verbinde. Auf der einen Seite führt dies zu spannenden Forschungsergebnissen und konkreten Designprodukten und motiviert die Studierenden. Auf der anderen Seite ist es organisatorisch sehr aufwändig und erfordert von den Studierenden und mir ein hohes Maß an Anpassung und Reaktionsfähigkeit auf Unvorhersehbares, was anstrengend sein kann.  
Für mich als Lehrenden ist zudem die Gratwanderung zwischen Unterstützung (Scaffolding) und Förderung der Eigeninitiative der Studierenden bei der Bearbeitung der Entwurfsaufgabe ein Spannungsfeld, das immer wieder neu bewertet und entschieden werden muss. Hier gilt es, die richtige Balance zu finden, um die Studierenden angemessen zu unterstützen, ohne die Eigenverantwortung zu vernachlässigen. 

Umfeld

Wirkung

Entwicklung und Ausleben von forschender Neugier

Erkennen von Zusammenhängen von Studium und Beruf

Interdisziplinäres Arbeiten

Erwerb von methodischen Kenntnissen

Zusammenarbeit mit externen Projektpartner:innen

Welchen Einfluss entfaltet mein Angebot zum forschenden Lernen?

Ein besonders erfreulicher und unerwarteter Effekt ist die Dankbarkeit und Begeisterung der Studierenden. Die gemeinsame Arbeit an einem offenen Prozess ist für alle Beteiligten eine tolle Erfahrung gewesen. Diese positive Stimmung ist nicht nur für die Studierenden, sondern auch für mich sehr bereichernd und motiviert mich, diese Art von Seminaren fortzusetzen.  
Ein gewollter Effekt ist, dass sowohl die Studierenden als auch ich während des Seminars enorm viel lernen. Der offene Prozess ermöglicht unvorhergesehene Entwicklungen, die Lernende und Lehrende mit neuen Erkenntnissen und Perspektiven konfrontieren. Diese Erfahrung zeigt den Studierenden, was das Wesen von Forschung ausmacht und verdeutlicht, wie viel Spaß und Neugier einerseits aus einer forschenden Tätigkeit entstehen, aber auch wie viel Arbeit und Ungewissheit andererseits dahinterstecken können. Darüber hinaus trägt die forschende Haltung im Seminar dazu bei, den Lernprozess lebendig und anpassungsfähig zu halten, ohne die Handlungsperspektive und damit den Kompetenzerwerb aus den Augen zu verlieren.  
Wie bereits bei den Spannungen im vierten Abschnitt angesprochen, ist jedoch zu beachten, dass die Unvorhersehbarkeit des Prozesses auch dazu führt, dass nicht alle didaktischen Entscheidungen im Voraus getroffen werden können. Viele kleine Entscheidungen müssen situativ und flexibel getroffen werden, was einen von mir unterschätzten Effekt dieses Lehr-Lern-Settings darstellt und nicht zu jedem Lehrstil passt. 
Dieser Punkt führt zu einem weiteren, eher unbeabsichtigten Effekt, der als großer organisatorischer und didaktischer Aufwand meinerseits beschrieben werden kann. Dies zeigt sich z. B. in dem hohen Maß an Feedback, welches sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgt und einen großen Teil meiner zeitlichen Ressourcen für das Seminar in Anspruch nimmt. Auch die E-Portfolios, die von den Studierenden sehr ausführlich erstellt und mit langen Reflexionstests versehen werden, spiegeln den hohen Beratungsaufwand meinerseits wider. Darüber hinaus nimmt auch die Beurteilung der Leistungen der Studierenden viel Zeit in Anspruch, da sich die Forschungsergebnisse und die erarbeiteten Gestaltungsgegenstände stark von den klassischen Prüfungsformen der Juristenausbildung (Fallklausur) unterscheiden. Trotz dieser ungewollten Effekte überwiegen die positiven Erfahrungen, weshalb ich einen großen Nutzen für die Rechtswissenschaften im Prinzip des forschenden Lernens sehe. 
 

Weitere Infos zum  Design Thinking Double Diamond Modell des UK Design Council lassen sich über die verlinkten Begriffe einsehen.  

Flaschenpost
  •  Anton Sefkow, Dipl. Jurist & Mag.
  • Universität Hamburg
  • 2024
  • Das hier vorgestellte Beispiel für forschendes Lernen findet in den Rechtswissenschaften statt und verbindet forschendes Lernen mit Design-Based Research. In ihm untersuchen Studierende der Rechtswissenschaften, inwiefern der Zugang zum Recht durch die Integration von Legal Tech verbessert werden kann.

  • Fallbeispiel oder Praxisbericht (z.B. Projektbeschreibung)
  • Text/Textdokument
  • Deutsch
  • CC BY SA (unsere Empfehlung: Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen)
  • Sefkow, Anton (2024). Mit Legał Tech Recht gestalten. Insel der Forschung: Beispiele & Good Practices.
  • übergreifend
  • Rechtswissenschaften