Die folgende Textsequenz bzw. Fallvignette schildert eine Situation im Kontext einer Lehre, die forschendes Lernen zum Ziel hat. Die beschriebene Situation fordert Sie als Lehrende heraus und verlangt möglicherweise von Ihnen, dass Sie unmittelbar handeln. Ziel der Bearbeitung der Fallvignette ist es, dass Sie sich Gedanken darüber machen können, was Sie in einer solchen Situation tun oder wie Sie eine solche verhindern könnten. Vielleicht aber schätzen Sie die Situation auch als problemlos und eher lernförderlich ein. So oder so können sich auf diese Weise sozusagen präventiv mit möglichen Herausforderungen vertraut machen und Ihre eigenen Bewertungen und Handlungsimpulse reflektieren.

Die beschriebenen Situationen stammen aus Interviewdaten mit Koordinator_innen von Projekten zum forschenden Lernen und wurden für den genannten Zweck zugespitzt. Es wurden die geläufigsten Herausforderungen, die in Lehrangeboten zur Förderung forschenden Lernens vorkommen, ausgewählt und in Fallvignetten umgewandelt.

Sonntagnachmittag. Eigentlich Ihr Wochenende. Prinzipiell ist es das auch, jedoch ploppt Ihnen immer wieder Ihre Seminarsituation in den Kopf: Die Studierenden sind fleißig, haben eine Fragestellung gefunden und arbeiten daran. So weit so gut, allerdings ist Ihnen aufgefallen, dass die Methodenkompetenz der Gruppenmitglieder und der unterschiedlichen Gruppen weit auseinandergeht. Beispielsweise haben Sie von einer Gruppe Ausschnitte des Interviewtranskripts gehört – es quillt über vor Suggestivfragen und Ja-Nein-Fragen, außerdem ist es sehr lang. Andere haben einen sehr guten Interviewleitfaden vorgelegt, sind aber besorgt, während des Interviews Fehler zu machen und trauen sich kaum ins Feld.

Reflexionsfragen

  • Ist Ihnen die Qualität der Forschung der Studierenden wichtig?
  • Wofür möchten Sie Ihre Ressourcen einsetzen?
  • Möchten Sie ausgleichend wirken, indem Sie Schwächere mehr unterstützen, oder möchten Sie allen Projektgruppen oder Teilnehmenden vergleichbar viel Zeit und Energie widmen?
  • Wie wichtig ist Ihnen ein relativ homogenes Qualitätsniveau der Ergebnisse der einzelnen Gruppen?
  • Welche Möglichkeiten haben die Studierenden im Rahmen der Veranstaltung, aus den eigenen Fehlern und Fehlern der Kommilitonen zu lernen?
  • Welche Lernziele haben Sie für die Studierenden? An welcher Stelle sollen sie das Wissen vermittelt bekommen? Im Prozess oder in der Bewertung?

Haltungen und Umgangsweisen

Im Folgenden werden einerseits Haltungen, andererseits präventives und intervenierendes Handeln in der geschilderten Situation präsentiert. Zunächst werden Haltungen geschildert. Diese haben Auswirkungen darauf, ob und wie reagiert wird. Anschließend werden Handlungen präsentiert. Sie sind Beispiele aus der Praxis, wie Lehrende an Hochschulen mit der Situation umgehen: präventiv oder intervenierend. Zudem werden indirekte Maßnahmen aufgeführt, die sozusagen „über Bande“ Wirkung entfalten können.

Haltungen

Haltungen umfassen keine konkreten Maßnahmen, sondern beschreiben die innere Einstellung von Lehrenden (oder Koordinierenden) zu unterschiedlichen Situationen. In Abhängigkeit von der Haltung können Situationen als „problematisch“ und „herausfordernd“, aber auch als „erwünscht“ und „normal“ interpretiert werden.

Sich am Prinzip der minimalen Hilfe orientieren

Sie sind überzeugt, dass Hilfe nur sinnvoll ist, wenn sie eingefordert wird; und auch dann halten Sie nur so viel Hilfe für angebracht, wie die Studierenden brauchen; das bedeutet auch, dass Studierende selbst verantwortlich für ihre Organisation und auch für die Einforderung von Lerninhalten sind. Sie gehen davon aus: Nur in Fällen, in denen die Gruppenarbeit erkennbar aus dem Ruder läuft, sollten Lehrende eingreifen.

In dieser Fallvignettensituation könnte dies auf der Handlungsebene bedeuten:
Um einzuschätzen, ob es tatsächlich nötig ist zu intervenieren, könnten Sie Gespräche mit den Studierenden führen. Machen Sie die Studierenden auf Ihre Eigenverantwortung aufmerksam. Sollte dieser Hinweis nichts bewirken, können Sie als Lehrender intervenieren – und zwar nur in dem Ausmaß, wie es erforderlich ist.  

Studierende eigenständig Prozesse gestalten lassen

Sie möchten den Studierenden Raum lassen, den Prozess eigenständig zu gestalten und selbst Erfahrungen zu sammeln.

In dieser Fallvignettensituation könnte dies auf der Handlungsebene bedeuten:
Sie halten sich mit Empfehlungen zurück. Auch wenn konkrete Hilfen eingefordert werden, bieten Sie immer eine Auswahl an und beschreiben möglichst neutral Vor- und Nachteile, sodass die Studierenden letztlich selbst die Entscheidungen aus ihren Handlungsalternativen treffen.

Überforderung als Grundprinzip von Universität akzeptieren

Sie betrachten Überforderung von Studierenden als normal und wünschenswert und vermitteln es ihnen auch in Gesprächen. Sie betonen, dass Überforderung zu Wachstum führt.

In dieser Fallvignettensituation könnte dies auf der Handlungsebene bedeuten:
Sie könnten ein Reflexionsgespräch mit den Studierenden initiieren. Dort greifen Sie das Thema der Überforderung auf. Gemeinsam denken Sie darüber nach, welchen Nutzen die Überforderung in dieser Situation mit sich gebracht hat.

Präventives Handeln

Präventives Handeln verhindert die beschriebene Situation bzw. macht sie weniger wahrscheinlich, denn eine Garantie für die Vermeidung solcher Konflikte gibt es nicht.

Strukturierungsbedarf der Gruppe erfragen

Zu Beginn des Semesters können Sie bei den Studierenden abfragen, wie viel Struktur und Betreuung sie sich wünschen. In Abhängigkeit davon können Sie auf die Wünsche eingehen.

Nutzen für die Fallvignettensituation: Die Studierenden übernehmen von Beginn an selbst die Verantwortung dafür, wie viel Sie sich als Lehrperson in den Prozess der Einzelgruppe involvieren. Sie müssten folglich nicht selbst entscheiden, ob Sie nachregulieren

Durch Teamentwicklung initiale Rollenverteilung fördern

Bevor mit der eigentlichen Forschung begonnen wird, initiieren Sie eine Phase zur Teamentwicklung. In dieser Phase erleben Studierende unter anderem den Nutzen von Rollenverteilungen im Team – ohne dass sie ihnen explizit vorgegeben wird. In der Regel entscheiden die Studierenden sich anschließend, dieses Prinzip für ihre Projektarbeit zu übernehmen und weisen einander unterschiedliche Rollen zu.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Es könnten Aufgaben und Rollen wie beispielsweise Inhaltswächter_innen oder Prozesswächter_innen zugeordnet werden, deren Aufgabe es ist, Defizite zu erkennen und gegebenenfalls Hilfe einzufordern. Mit dieser Maßnahme können Teams leistungsfähiger werden.

Mehrere Gruppensprecher ernennen

Sie fordern ein, dass die Projektgruppen zwei Sprecher_innen ernennen, die mit Ihnen oder Tutor_innen in Kontakt stehen.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Sprecher_innen zu bestimmen kann verhindern, dass nur eine Perspektive über den Forschungsprozess kommuniziert wird und mögliche Missverständnisse oder Unklarheiten verdeckt bleiben.

Ansprechpartner_innen anbieten

Sie weisen Studierende von Anfang an regelmäßig darauf hin, dass sie bei Schwierigkeiten Ansprechpartner_innen haben – und zwar auch für kleinere Fragen oder Anliegen.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Werden Studierende explizit auf die vorhandene Unterstützung mehrfach hingewiesen, sinkt die Hemmschwelle eher, diese zu nutzen.

Mit Mikroformaten an vorhandene Fähigkeiten andocken

Zu Beginn der Projektlaufzeit erfragen Sie bei den Studierenden, was sie schon können. Angepasst an diese Ergebnisse entwickeln sie das durchzuführende Format. Dies muss nicht den gesamten Forschungsprozess umfassen, sondern kann auch ein einzelner Forschungsschritt sein, wie beispielsweise die Entwicklung einer Forschungsfrage, das Erheben von Material oder die Auswertung von vorhandenem Material. Eine andere Möglichkeit ist Methoden und Themenfelder einzugrenzen.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Studierenden haben weniger Freiheitsgrade und können dadurch fokussierter und zielführender Arbeiten. Dadurch ist der vorgegebene Zeitrahmen einhaltbar. Zudem wird besser gesteuert, was die Studierenden methodisch oder inhaltlich lernen.

Intervenierendes Handeln

Intervenierend handelt man in der Regel, „wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“. Es handelt sich also um akute reaktive Maßnahmen.

Methodenlernen in Workshops outsourcen

Sie versuchen nicht, den Studierenden während des Prozesses bestimmte Methoden beizubringen, welche sie in der Forschung nutzen. Stattdessen bieten Sie entweder selbst Methodenworkshops an, oder werben für vorhandene Angebote.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation:
Methodenfragen oder -diskussionen können Sie in andere Kontexte „outsourcen“ und damit Zeit und Energie in andere Prozesse investieren. Außerdem fallen manche Ideen der Studierenden realistischer aus, wenn sie mehr über die Methoden und den entsprechenden Arbeitsaufwand gelernt haben.

Methodenhandreichung ausgeben

Sie entwickeln eine Handreichung, in dem die für Ihr Projekt geläufigsten Methoden kurz skizziert, Einsatzszenarien und Vor- und Nachteile beschrieben werden; außerdem verweisen Sie auf die geläufige Literatur.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Studierenden haben einen Anhaltspunkt, um sich für eine Methode zu entscheiden und außerdem weiterführende Literatur, um sich vertiefend in ihre gewählte Methode einzuarbeiten.

Handreichung „Leitfaden zum wissenschaftlichen Arbeiten“ ausgeben

Sie entwickeln einen Leitfaden zum wissenschaftlichen Arbeiten, welchen Sie den Studierenden zur Verfügung stellen. Darin beschreiben Sie Ihr gefordertes Zitationsformat und Schlüsselelemente, welche für Sie in der Forschung relevant sind.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Studierenden haben eine Orientierung und sind nicht durch ein Überangebot an Möglichkeiten verwirrt. So können sie fokussierter arbeiten und werden womöglich auch auf eigene Forschungslücken aufmerksam.

Erklärvideos erstellen

Sie entwickeln Erklärvideos zu relevanten Themen, wie beispielsweise dem Erstellen wissenschaftlicher Poster, dem Ablauf einer Posterpräsentation, oder was Sie sonst noch an Bedarfen sehen.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die Studierenden erhalten so eine Orientierung wie sie vorgehen können. Ihnen als Lehrperson spart es nach der ersten Entwicklung der Videos Arbeit, da sie mehrfach eingesetzt werden können.

Mehrstündige Projekttreffen ansetzen

Sie planen für die Besprechungen mit den Studierenden große Zeitfenster – beispielsweise drei Stunden – ein.

Nutzen dieser Maßnahme für die Fallvignettensituation: Die lange Besprechungszeit ermöglicht eine andere Tiefe der Auseinandersetzung mit den Themen. Sie und die Studierenden unterliegen nicht dem Stress, in kurzer Zeit zu Ergebnissen kommen zu müssen. Zudem lässt es Raum, die Studierenden selbst denken zu lassen, statt wegweisende Antworten auf Fragen zu geben.

Indirekte (begleitende) Maßnahmen

Die begleitenden Maßnahmen wirken nicht direkt auf die Studierenden ein, sondern eher „über Bande“, in diesem Fall Dritte Akteur_innen.

Teambegleiter_innen einsetzen

Sie können auch beispielsweise Tutor_innen als Teambegleiter einsetzen. Diese beobachten den Prozess und geben in regelmäßigen Abständen Feedback zu Gruppenverhalten und dem Forschungsprozess. Außerdem könnten sie am Ende des Semesters auch eine Zusammenfassung ihrer Beobachtungen für die Studierenden über deren Verhalten (und damit auch Stärken und Schwächen) im Forschungs- und Gruppenprozess verfassen.

Nutzen für die Fallvignettensituation: Die Teambegleiter übernehmen die Rolle der Feedbackgebenden, dadurch werden Unterschiede oder gar Defizite explizit und die Studierenden können sich entscheiden, was sie daraus machen.

  • FideS-Team
  • Projekt FideS - Forschungsorientierung in der Studieneingangsphase
  • 2020
  • Sonntagnachmittag. Eigentlich Ihr Wochenende. Prinzipiell ist es das auch, jedoch ploppt Ihnen immer wieder Ihre Seminarsituation in den Kopf: Die Studierenden sind fleißig, haben eine Fragestellung gefunden und arbeiten daran. So weit so gut, allerdings ist Ihnen aufgefallen, dass die Methodenkompetenz der Gruppenmitglieder und der unterschiedlichen Gruppen weit auseinandergeht. Beispielsweise haben Sie von einer Gruppe Ausschnitte des Interviewtranskripts gehört – es quillt über vor Suggestivfragen und Ja-Nein-Fragen, außerdem ist es sehr lang. Andere haben einen sehr guten Interviewleitfaden vorgelegt, sind aber besorgt, während des Interviews Fehler zu machen und trauen sich kaum ins Feld.

  • Fallvignette
  • Deutsch
  • CC BY SA (unsere Empfehlung: Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen)
  • Preiß, J., Bartels, M., Herrmann, A.-C., Krein, U., Lübcke, E. & Reinmann, G. (2020). Fallvignette: Berg und Talfahrt studentischer Forschungskompetenz. Hamburg; Kaiserslautern; Potsdam: Projekt FideS-Transfer.
  • übergreifend